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Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren

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Dr. Carsta Langner, »›Ich habe bis Frankreich geweint‹. Erfahrungen chilenischer Migrant*innen in Jena in der späten DDR«

Unter dem Titel 'Chilenische Mitarbeiter im Glaswerk zwischen 1971 und 1975' aufgenommenes Foto für die Betriebszeitung 'Die Glasmacher'. Bildrechte: Archiv der Schott AG.
Unter dem Titel 'Chilenische Mitarbeiter im Glaswerk zwischen 1971 und 1975' aufgenommenes Foto für die Betriebszeitung 'Die Glasmacher'. Bildrechte: Archiv der Schott AG.

Im Rahmen der Quellenarbeit zu ihrem Forschungsprojekt verfasste Dr. Carsta Langner kürzlich einen neuen Essay. Darin beschäftigt sie sich mit den Erfahrungen und Perspektiven chilenischer Migrant*innen in Jena, die insbesondere nach dem Putsch gegen Salvador Allende 1973 in die DDR kamen. Sie unternimmt weiter den Versuch, deren Aufnahme sowohl durch den Staat, als auch die Einwohner*innen Jenas zu rekonstruieren.


Dr. Carsta Langner: »›Ich habe bis Frankreich geweint‹ – Erfahrungen chilenischer Migrant*innen in Jena in der späten DDR«

Als Anhänger der Unidad Popular, dem Bündnis zahlreicher linker Parteien, floh der 24-jährige Francisco Pérez* 1974 vor der Verfolgung der kommunistischen und sozialistischen Aktivist*innen in Chile zunächst nach Mexiko und anschließend in die DDR.
Zwölf Jahre später interviewte ihn ein Team der dortigen Staatlichen Filmdokumentation. Die Mitarbeiter*innen arbeiteten für ein Archiv, das Eindrücke und Erfahrungen aus der DDR für eine spätere Generation im O-Ton und vor laufender Kamera ungeschönt festhalten sollte. Nun wollten sie auch Erfahrungen chilenischer Emigrant*innen dokumentieren. Pérez, zum Zeitpunkt der Aufnahme 35 Jahre alt, erzählte ihnen ernst und melancholisch von seinem Leben im Exil.
***
Die Trauer und der Schock über den Sturz der sozialistischen Regierung Chiles 1973 wurden in der medialen DDR-Öffentlichkeit als gesamtgesellschaftliche Grundstimmung vermittelt. Drei Tage nach dem Mord Allendes durch die Putschisten proklamierte das Neue Deutschland am 14. März 1973 die »feste Solidarität dem tapferem Volk Chiles« auf ihrer Titelseite. Tausende seien aus Trauer und im »Kampf gegen den Imperialismus« in Halle, Dresden, Rostock und Leipzig für die Solidarität mit den Chilenen auf die Straße gegangen. Die Schriftstellerin Christa Wolf schrieb zwei Wochen nach dem Putsch in ihr Tagebuch von den »wichtigsten Mittagsnachrichten: Die Junta hat in Chile Kopfprämien von je 4000 Pesos (?) (oder wie heißt die chilenische Währung) auf die Ergreifung von siebzehn führenden Mitgliedern der Unidad popular ausgesetzt. Alle Parteien sind verboten. Sie sollen ein geheimes Partisanenausbildungslager ausgehoben haben. (»In der Märkischen Volksstimme« war unser Text mit den Unterschriften der Potsdamer Schriftsteller abgedruckt: … ›unfähig, die knappe Zeitspanne zu überblicken, die ihrer Diktatur gesetzt ist…‹ Wir änderten auf Antrag in ›bemessene‹ Zeitspanne. Doch auch dies wird zu optimistisch sein. Ein Alptraum, und unser meist freundlicher Alltag läuft unverändert weiter …)«.
Der Alltag von Francisco Pérez lief indessen alles andere als unverändert weiter. Während Freunden und politischen Weggefährten in Chile Verfolgung und Folter drohten, fiel der junge Mann in eine lange depressive Phase: »Ich war sehr allein, ich war nur auf mich angewiesen. Die einzige Möglichkeit für mich war, mich einzuschließen und – sagen wir mal – nach innen zu leben. Für die äußere Welt war ich nicht da; existierte nicht.«
Gemeinsam mit anderen chilenischen Oppositionellen war Francisco Pérez zunächst nach Berlin geflogen. Von dort aus musste er jedoch weiter: »Am Anfang war es so, dass unsere deutschen Freunde und Genossen eigentlich nicht vorbereitet waren diese Masse zu bekommen. Demzufolge wurden wir in verschiedene Städte in der DDR verteilt. Ich war nach Jena geschickt.«

Nachdem Jena im Bezirk Gera als Stadt zur Aufnahme der »chilenischen Patrioten« vorgesehen worden war, bildete die dortige Stadtverwaltung eine Arbeitsgruppe zur Unterbringung und Integration. Es wurden einhundert Chilenen in der damals rasant wachsenden Stadt erwartet, deren Einwohnerzahl zwischen 1970 und 1973 bereits um mehr als 9000 angestiegen war und die sich weiterhin auf Wachstumspfad befand.
Vieles musste nun ad hoc und ohne zentralstaatliche Vorgaben in der Stadt geregelt werden: Aus den Protokollen des Rats der Stadt geht hervor, dass eine Erstunterbringung im Fritz-Ritter-Heim – einem sogenannten Arbeiterhotel – erfolgen sollte. Anschließend reservierte der Rat der Stadt eigene Wohneinheiten in den neuen Wohnblöcken. Die erste Gruppe der Chilenen war bereits im März 1974 im Block A II im Hauptzentrum Neulobeda Ost untergebracht worden. Der Stadtteil war erst zwei Jahre alt, die neuen Plattenbauten reihten sich in das Bauprogramm der siebziger Jahre ein. Die Wohnungen, die auch bei den Jenaern äußerst begehrt waren, wurden dem neuesten Standard entsprechend eingerichtet. Die neuen Möbel sollten später durch einen zinslosen Kredit monatlich vom Einkommen zurückgezahlt werden. Auch die Unterbringung der Kinder wurde bereits vor Ankunft der Geflüchteten geregelt: Zwölf Plätze hielt der ebenfalls neue Kindergarten in Neulobeda für die chilenischen Kinder frei. Die Arbeitsgruppe entschied sich, dass die Kinder »nicht in Sonderklassen, sondern entsprechend des Grades der Vorbildung in bestehende Klassenverbände eingegliedert werden« sollten.
Vor Ort war man mit der Integration einer größeren Gruppe von Migrant*innen noch nicht vertraut und musste sich dennoch an Richtlinien des Zentralkomitees halten. Vieles geschah daher tastend und experimentierend; aber auch unsicher. Obwohl die Chilenen als Genossen wahrgenommen und der Jenaer Bevölkerung präsentiert wurden, sollten sie unter staatlicher Beobachtung bleiben und durch politische Erziehung auf ihr späteres Kaderleben in Chile vorbereitet werden. Dabei traten die Chilenen – verfolgte Aktivisten ihres Landes – äußerst selbstbewusst, fordernd und eigenwillig den politischen Funktionären in Jena entgegen. Sie vernetzten sich nicht nur eigenständig – auch über die verschiedenen Bezirke hinweg -, sie stellten auch politische Forderungen wie jene, Abzüge politischer Schriften aus Frankreich vor Ort zu drucken und ein eigenes antifaschistisches Komitee zu gründen.
Die staatliche Fürsorge nahmen sie zwar dankend an, wollten sich jedoch nicht auf die apolitische Rolle zu schulender Objekte reduzieren lassen. Sie hatten eigene politische Ziele und Strategien: »Als wir in Jena ankamen«, so Mitglieder des Antifaschistischen Komitee Jenas vor der Arbeitsgruppe Integration des Zentralkomitees der SED 1975, »empfanden wir die Solidarität wie eine väterliche Fürsorge. Diese wurde auf verschiedene Weise überwunden, worüber wir uns sehr freuen.« Verstärkt drängten sie auf eigenständiges politisches Handeln und kritisierten ein Jahr nach ihrer Ankunft, »daß wir alle nach einer Periode höchster politischer Aktivität, auch im Beruf jetzt relativ passiv sein müssen, was einer raschen Integration nicht förderlich ist.«
Auch Pérez fühlte sich handlungsunfähig und schien sich immer weniger mit den politischen Zielen und Strategien der kommunistischen und sozialistischen Genoss*innen identifizieren zu können. Seinem Dissens und Unmut Ausdruck zu verleihen, sah er sich jedoch kaum in der Lage: »Ich habe mich manchmal nicht getraut, laut zu sagen, was ich eigentlich gedacht habe, denn irgendwie hatte ich Angst.« Diese Angst sollte nicht unbegründet sein, wie er einige Jahre später feststellen musste.

Zunächst arbeitete er in Jena einige Monate im VEB Carl Zeiss: »Ich war angestellt als hochqualifizierte Arbeitskraft. Wir hatten entsprechend eine ganz dumme Arbeit, Langeweilearbeit.«
Viele Chilenen in Jena taten sich schwer in den Großbetrieben vor Ort. Ihre Lebensumstände unterschieden sich dabei stark von jenen der Chilenen in Rostock oder Berlin, die größtenteils in künstlerisch kreativen Berufen auch ihre politischen Erfahrungen gemeinsam mit Gleichgesinnten verarbeiten konnten. Vor allem die chilenische ›Künstlerkolonie‹ in Rostock bot ein anderes Lebensumfeld als jenes in Jena, wo die Chilenen viel stärker eine Proletarisierung und den Zwang eines langen Arbeitstages, der sich an großen Maschinen in der Produktion in einem durchreglementierten Schichtsystem vollzog, erlebten. Härte, Anstrengung und Gleichförmigkeit eines industriell geprägten Arbeitsrhythmus ließen kaum noch Zeit für politische oder künstlerische Aktivitäten. In regelmäßigen Aussprachen innerhalb der Betriebe baten einige darum, in anderen Bereichen eingesetzt zu werden; legten aber auch private Probleme dar, die aus ihrem Leben im Exil resultierten. Francisco Pérez plagte vor allem die Perspektivlosigkeit seines Lebens in der DDR, das nur ein temporäres sein sollte: »Jena war die erste Periode der Migration. Wir hatten irgendwie das Gefühl von Exilleben. Aber was das heißt, wussten wir noch nicht.« Anfangs versuchte er das Leben, das er in Chile gelebt hatte, fortzusetzen; aber er war nicht nur in ein fremdes Land gekommen, sondern auch in eine ihm fremde Gesellschaft: In ein vollkommen anderes politisches und ökonomisches Gesellschaftsgefüge, dessen Funktionsweisen ihm ebenso wenig vertraut waren wie noch subtilere Unterschiede im alltäglichen Miteinander. Er fühlte sich zunehmend handlungsunfähig. Die innerlinken Gegensätze der Chilenen selbst, die einer Anpassung an den realen Sozialismus vor Ort widerstrebten und sich auch nicht willenlos in die ihnen zugedachten Kaderfunktionen zum Aufbau eines zukünftigen Chiles fügten, trafen zudem auf persönliche Probleme eines Exillebens.
Schwierigkeiten im Erlernen der neuen Sprache, die nun den Lebensalltag prägte, aber auch mit der deutschen Mentalität führten bei vielen Chilenen zu Depressionen, familiären Unsicherheiten, Zukunftsängsten und Entfremdungsgefühlen. Alle Bezirke, in denen Chilenen aufgenommen wurden, berichteten dem Zentralkomitee von depressiven Zuständen unter den Migrant*innen, die sich in Gefühlen wie Leere und Heimweh artikulierten. Manche Chilenen wollten wieder nach Hause oder in Staaten leben, in denen ihre Sprache gesprochen wurde.
Kleinere Probleme und Anliegen chilenischer Emigranten konnten durchaus in den Betrieben und durch den Rat der Stadt Jena selbst gelöst werden. So bat Maria Díaz*, die Ende der siebziger Jahre in der Kontrolle im Carl Zeiss Werk arbeitete, aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters an keiner Qualifizierungsmaßnahme mehr teilnehmen zu müssen. Sie arbeitete bereits nur noch sechs Stunden täglich. Und auch ihrem Wunsch, ein Verständnis für die Produktionsabläufe zu entwickeln, kam der VEB durch die Vereinbarung nach, einmal im Monat einen Dolmetscher zu bestellen. Días wollte schlicht wissen, für welche Geräte die von ihr kontrollierten Teile benötigt würden. Auch Antonio Gonzáles*, der zu seiner deutschen Frau nach Dresden ziehen wollte, damit diese ihren Beruf als Bühnenbilderin am sorbischen Theater nicht aufgeben müsste und der in dieser Angelegenheit bereits eine Eingabe an Erich Honecker geschickt hatte, wollte der Rat der Stadt unterstützen, »weil sonst ein ernsthaftes Familienproblem entstehen könnte, wenn nicht ernsthaft gehandelt wird.« Im Rahmen der lokalen Möglichkeiten wurde in Jena ein Ringen deutlich, den Chilenen den – temporären – Aufenthalt so angenehm als möglich zu gestalten; sie aber gleichzeitig zu kontrollieren und auf ihre später zugedachte Funktion als Kader zum Aufbau eines sozialistischen Chiles vorzubereiten. Die staatliche Unterstützung war dabei immer auch an politische Loyalität gebunden. Die Chilenen sollten in der DDR nicht einfach nur ihr persönliches Glück suchen, sondern auf den politischen Kampf in Chile vorbereitet werden. Zeigten »chilenische Genossen« zu viel Eigenwilligkeit und kamen bestimmten Anforderungen nicht nach, konnte dies harte Sanktionen nach sich ziehen. Dies musste auch Francisco Pérez schmerzhaft erfahren. Nachdem ihm ein Sprachstudium in Leipzig und daran anschließend eines in Berlin ermöglicht wurde, sollte er nach Jena zurückkehren. »Aber ich hatte hier meine Freunde, meine Bekannte. Und ich wollte nicht nach Jena.«, erinnerte er sich 1985 vor der Kamera des Teams der Staatlichen Filmdokumentation. Daraufhin erhielt er zwei Jahre lang keine Arbeitsstelle und verlor letztlich auch seine Wohnung. Sein Eigensinn gegenüber politischen Vorgaben kostete ihn erneut die Bedingungen eines geschützten, stabilen Lebens.
In langwierigen Seminaren sollten die chilenischen Emigrant*innen in den ideologischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus geschult werden, dessen Texte sie – neben ihrer Arbeit – zum Teil im Original lesen mussten. Durch die allumfassende Eingliederung in das gesellschaftliche Leben vor Ort, das immer auch Formen sozialer und politischer Kontrolle beinhaltete, wurden die Chilenen eingeformt und geschult; als Teil einer größeren – einer internationalen – Strategie gegen »Imperialismus und Faschismus«.
Für viele Chilenen in Jena der siebziger und achtziger Jahre bedeutete dies wiederum, in ritualisierte Formen des Realsozialismus gepresst zu werden, die in dem zeitgenössischen Begriff der »Eingliederung« einen ungewollt passenden Ausdruck gefunden hatte. Im Jargon des bürokratisierten Staatssozialismus sollte beispielsweise der Internationale Frauentag genutzt werden, »um mit allen chilenischen Frauen erstmals für sie eine ordnungsgemäße Frauentagsfeier durchzuführen.« Penibel wurden die Feierlichkeiten geplant und dokumentiert. Gleich in drei verschiedenen Varianten wurde im ersten Jahr des Ankommens mit den chilenischen Frauen der internationale Frauentag zelebriert: »Die Gruppe des VEB Zeiss war zum Empfang beim Generaldirektor des Betriebes. Das geschah am 7. März. Die Gruppe der im VEB Schott Arbeitenden wurde am 9. März in eine zentrale Frauentagsfeier einbezogen. Am 8. März erfolgte eine Aufgliederung der chilenischen Frauen zur Teilnahme an individuellen Feierstunden. Für unsere chilenischen Frauen gab es unauslöschliche Eindrücke. Das politische Verständnis für die Stellung und Rolle der Frau wurde damit vertieft.« Die staatlichen Protokolle, die als Teil bürokratisierter Verfahren zwangsläufig einen solchen Ausdruck annehmen, verdeutlichen den unbedingten Wunsch zur Eingliederung ins gesellschaftliche Ganze. Individuelle Erfahrungen – wie jene von Margarita Sanchez*, die ebenfalls im Film Exil über ihr Leben erzählt – geben sie indes nicht wieder. Das Leid jener Frauen, die mit ihren Kindern allein fliehen mussten, sich kaum verabschieden konnten und in der DDR mit ihren traumatischen Erlebnissen oft sprachlos blieben, kommen in der bürokratischen Überlieferung nicht vor.

Im Verlauf der siebziger Jahre wurden die im Exil lebenden Chilenen in der DDR immer präsenter. Die Solidarität mit Chile und den dort verfolgten, gefolterten und ermordeten Linken spiegelte sich auch in städtischen Umbenennungsritualen wider: Plätze, Schulen, Arbeitsbrigaden und Krankenhäuser wurden nach Salvador Allende oder Pablo Neruda umbenannt. Chile und die Solidarität mit den Opfern des Putsches waren in der DDR omnipräsent.
Auch die in Jena lebenden Chilenen wurden ab Mitte der siebziger Jahre verstärkt in Veranstaltungen einbezogen; dabei jedoch häufig auf folkloristische Darbietungen reduziert. Schulen, Ansprechpartner in Wohnheimen, Organisatoren von Jugendweihefeier oder auch die Hochschulgruppe des Kulturbundes in Jena fragten ab Mitte der siebziger Jahre zunehmend an, ob die ›chilenischen Genossen‹ Veranstaltungen mitgestalten könnten. Die Ideen, wie die Chilenen in Projekte an Schulen, der Universität oder auch an Theatern eingebunden werden könnten, waren dabei nicht parteipolitisch aufoktroyiert, sie entsprangen vor Ort und wurden zum Teil auch abgelehnt. Die parteipolitisch initiierte, medial und gesellschaftspolitisch vermittelte »Solidarität mit dem chilenischen Volk im Kampf gegen den Imperialismus« mündete in ein eigenwilliges Engagement von unten, das jedoch nur kanalisiert Ausdruck finden konnte. Gemeinsame, spontane Erfahrungen waren kaum möglich. Während die SED immer wieder zu Solidarität mit den Chilenen aufgerufen hatte, wurde die spontane Kontaktaufnahme mit ihnen argwöhnisch überwacht und kontrolliert. So sollten – dem Ministerium für Staatssicherheit zufolge – die Chilenen in Jena den Betreuern im Wohngebiet vor allem die Versuche kirchennaher Kreise zur Kontaktaufnahme mitteilen. Die Enttäuschung über die Umsetzung des Sozialismus in der DDR seitens einiger Teile der Kirche, aber eben auch jener der Chilenen hätte sich dabei gegenseitig verstärken können. Das wollte die SED um jeden Preis vermeiden.
Trotz Überwachung ließen sich freundschaftliche und kollegiale Beziehungen jedoch nicht komplett kontrollieren und verhindern; schließlich lebten die Chilenen in gleichen Stadtteilen, die Kinder gingen in den Kindergarten vor Ort, man arbeitete zusammen in den Großbetrieben, am Uniklinikum und traf sich auch auf Solidaritätsveranstaltungen.
Die Mehrheit der Jenaer – wie auch anderer Ostdeutscher – bekundete dabei wohl eher routiniert, dem politischen Willen neutral gegenüberstehend, Solidarität in Form von Spenden oder der Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen. Es war Teil des Ausdrucks guter Staatsbürgerschaft. Wie weit verbreitet die Kritik am staatlichen Umgang mit den chilenischen Emigranten und die Empathie mit der Situation der politischen Opposition war, lässt sich retrospektiv kaum einschätzen. Regelmäßig vermerkte die Staatssicherheit bereits kurz nach Ankunft chilenischer Emigranten in der DDR Ressentiments ihnen gegenüber: »Warum ausgerechnet die DDR, die sich laufend engagiert, wer gibt denn uns etwas«. Demnach seien die Chilenen besser behandelt worden als die Ostdeutschen selbst. Es offenbarten sich Neidgefühle seitens der DDR-Bürger, die so der Historiker Patrice Poutrus, im Alltag unter der Bezeichnung »teure Genossen« ihren Ausdruck fanden. Auch in Jena vermerkte der Rat der Stadt, dass nicht zu verschweigen sei, dass es in der Bevölkerung auch negative Meinungen gäbe, wonach den Jenaern Wohnungen weggenommen und den Chilenen alles geschenkt worden sei. Sie würden – so die Eindrücke, die die Staatssicherheit wiedergab – »so mit Geld versorgt, daß sie sich Schnaps kaufen könnten.« Ob diese Missgunst tatsächlich geäußert wurde oder Mitarbeiter der Staatssicherheit eigene Kritik projizierten, bleibt offen.
Francisco Pérez konnte in den 1980er Jahren seine depressive Phase überwinden. Er schrieb zum Zeitpunkt der Dokumentation seine Doktorarbeit und hatte geheiratet. Das langwierige Einfinden in eine neue Gesellschaft sollte – seinem Wunsch zufolge – jedoch nicht von Dauer sein. Er träumte von einer Rückkehr nach Chile, ungeachtet seiner Vorahnung, dass dieses Land nicht mehr das gleiche sein würde und eine Remigration auch für seine deutsche Frau einen Abbruch etablierter Lebensumstände bedeuten würde. Nachdenklich resümiert er: »Wenn man mit diesem Leben anfängt, hat das kein Ende.«

Die chilenische Emigrant*innen, die in den siebziger und achtziger Jahren in Jena lebten, sind nach der staatlichen Vereinigung 1990 – den Jahresberichten der damaligen Ausländerbeauftragten zufolge – mehrheitlich nicht geblieben. »Die sich zuspitzende Lage auf dem Arbeitsmarkt«, so der Bericht des Jahres 1992, »führte auch einigen chilenischen Familien die perspektivische Langzeitarbeitslosigkeit vor Augen und veranlaßte sie auch hinsichtlich der beruflichen Perspektive ihrer Kinder über eine Rückkehr nachzudenken.« Ihre Kinder, zum Teil in Chile geboren und von dort mit ihren Eltern geflüchtet, gingen in der DDR zur Schule und fanden sich dort, nach traumatischen Erfahrungen, in ein neues Leben ein. Für sie bedeutete die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein weiteres Mal den Zwang, sich in neuen Verhältnissen zurechtfinden zu müssen. Mit der Remigration nach Chile erfolgte nur einige Jahre nach 1989/90 für viele ein erneuter Bruch mit vertrauten Lebensumständen.

Dieser Text beruht auf Archivrecherchen im Stadtarchiv Jena, in den Unternehmensarchiven von Carl Zeiss Jena GmbH und Schott AG. Die wichtigsten erfahrungsgeschichtlichen Eindrücke vermittelten mir Gespräche mit Mitgliedern des Integrationsbeirates in Jena und der Film Exil, auf den mich die Historikerin Anne Barnert aufmerksam gemacht hat.

*Name anonymisiert

Zum Weiterlesen:

Barnert, Anne (Hg.) (2015): Filme für die Zukunft. Die Staatliche Filmdokumentation am Filmarchiv der DDR. Berlin: Neofelis Verlag.

Haber, Laura Amelie (2011): Freiräume und Kompromisse. Chilenische Künstler in der DDR. In: Kim Christian Priemel (Hg.): Transit – Transfer. Politik und Praxis der Einwanderung in der DDR 1945 – 1990. Berlin: Be.bra-Wiss.-Verl. (Almanach des Instituts für Angewandte Geschichte), S. 113–139.
Koch, Sebastian (2014): Zufluchtsort DDR? Chilenische Flüchtlinge und die Ausländerpolitik der SED. Dissertation (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart).

Poutrus, Patrice G. (2003): Mit strengem Blick. Die sogenannten »Polit. Emigranten« in den Berichten des MfS. In: Jan C. Behrends, Thomas Lindenberger und
Patrice G. Poutrus (Hg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Berlin: Metropol-Verl., S. 231–250.

Poutrus, Patrice G. (2007): Alles unter Kontrolle? Zur Bedeutung der BStU-Quellen für die zeithistorische Migrationsforschung. In: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Analysen und Dokumente, Bd. 30), S. 318-338.

Poutrus, Patrice G. (2019): Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart. 1. Auflage. Berlin: Ch. Links Verlag.

Zum Weiterschauen:

Bundesarchiv-Filmarchiv: Exil. DVD. B-125630-1. Staatliche Filmdokumentation am Filmarchiv der DDR. Regie: Jutta Soto, 1985.

Veröffentlicht am: 24. November 2020, 11:00 Uhr