Forschungsverbund Diktaturerfahrung + TransformationForschungsverbund Diktaturerfahrung + Transformation

Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren

Aktuelles

‹ alle Aktuelles-Artikel anzeigen

Publikation, Andrea Karle & Verena Krieger (Hg.), »Kurt W. Streubel. Spielarten des Abstrakten in der DDR«, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2021

Buchcover, Andrea Karle & Verena Krieger (Hg.), »Kurt W. Streubel. Spielarten des Abstrakten in der DDR.« Deutscher Kunstverlag, Berlin 2021.
Buchcover, Andrea Karle & Verena Krieger (Hg.), »Kurt W. Streubel. Spielarten des Abstrakten in der DDR.« Deutscher Kunstverlag, Berlin 2021.

Anlässlich der Ausstellung Entdeckungsreise ins Unbekannte. Kurt W. Streubel zum 100. im KunstForum Gotha (6. Mai bis 26. September 2021) erscheint am 13. Juli 2021 die Buchpublikation Kurt W. Streubel. Spielarten des Abstrakten in der DDR. Der umfangreich bebilderte Katalog präsentiert das vielfältige Schaffen des Künstlers und leistet erstmals eine kunsthistorische Einordnung seines Werks. Enthalten ist ein Beitrag von Michaela Mai. Lesen Sie hier das (gekürzte) Vorwort der Herausgeberinnen.


Mit seiner konsequent abstrakten Arbeitsweise zählte Kurt W. Streubel (1921–2002) eher zu den Ausnahmen innerhalb der Kunstproduktion in der DDR. Stets der europäischen Moderne verpflichtet, schuf er neben Gemälden und Grafiken auch Werke konkreter Poesie, betätigte sich auf dem Feld der Musik und arbeitete als Gestalter. Ein besonderes Charakteristikum seines Œuvres ist dabei, dass es plurale Tendenzen der Abstraktion in friedlicher Koexistenz umfasst: abstrahierende Landschaft ebenso wie radikale Gegenstandslosigkeit, »formloses« Informel ebenso wie geometrische Abstraktion.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Thüringen gelangt, beginnt Streubel ein Kunststudium an der Staatlichen Hochschule für Baukunst und bildende Kunst in Weimar, der Nachfolgeinstitution des Bauhauses. Inspiriert durch seinen Lehrer Hanns Hoffmann-Lederer, einen ehemaligen Bauhaus-Studenten, ist er davon überzeugt, nun an die von den Nationalsozialisten verfemte abstrakte Kunst anknüpfen zu können. Doch rasch muss Streubel feststellen, dass dies im Ostteil Deutschlands nicht gewollt ist. Im Zuge der Erhebung des Sozialistischen Realismus zur offiziellen Doktrin Anfang der 1950er Jahre wird er wie viele andere Künstlerinnen und Künstler als sogenannter Formalist gebrandmarkt und nicht in den neu gegründeten, staatlich gelenkten Verband der Bildenden Künstler (VBK) der DDR aufgenommen, wodurch ihm jede Arbeitsgrundlage entzogen ist. Viele verlassen deshalb das Land. Die wenigen, die bleiben, ziehen sich zurück. So auch Kurt Streubel: Fortan verdient er seinen Lebensunterhalt mit Gebrauchsgrafik und setzt sein künstlerisches Schaffen weitgehend außerhalb des öffentlichen kulturellen Sektors fort. Zeitlebens bleibt er so den künstlerischen Idealen des frühen Weimarer Bauhauses treu – um den Preis einer isolierten Künstlerexistenz ohne öffentliche Aufträge und Anerkennung.

Auch als Streubel nach langen Jahren der Ausgrenzung 1979 endlich in den Verband der Bildenden Künstler der DDR aufgenommen wird, erfährt er keine echte Wiedergutmachung: Der Katalog zu seiner ersten Einzelausstellung im Schlossmuseum Gotha im Jahr 1981 wird schon bald nach seinem Erscheinen konfisziert. Auch nach der Wende dauert es noch lange, bis Streubel erste Würdigung erfährt. Nachdem Ausstellungs-Vorhaben in den 1990er Jahren scheitern, gelingt es erstmals im Jahr 2002, seine Werke in einer Einzelausstellung zu präsentieren. An der Vorbereitung der Retrospektive in Altenburg und Sonneberg, die ihm späte Anerkennung verschafft, kann der Künstler noch mitarbeiten. Jedoch fand Kurt W. Streubel auch nach der Wende nur zögerliche Wahrnehmung durch die Kunstwissenschaft. Zwar zählt sein Name zum festen Inventar in Darstellungen der modernen Kunstgeschichte in Thüringen, doch vertiefte kunsthistorische Forschungen zu Streubel und seinem künstlerischen Umfeld blieben selten.
Mit der Ausstellung Entdeckungsreise ins Unbekannte im KunstForum Gotha werden erstmals die unterschiedlichen Spielarten des Abstrakten aus allen Schaffensphasen und Wirkungsfeldern Kurt W. Streubels in ihrer ganzen Breite und Vielfalt gezeigt: Von frühen Bleistift- und Pinselzeichnungen aus seiner Studienzeit an der Bauhaus-Nachfolgeinstitution in Weimar über Design-Entwürfe bis hin zu Druckgrafiken aus seinem Spätwerk reichen die ausgestellten Werke, die im vorliegenden Band abgebildet sind.

Darüber hinaus erfährt das Œuvre des Künstlers in den Beiträgen der Autorinnen erstmals eine grundlegende kunsthistorische Einordnung. Andrea Karle, die Kuratorin der Ausstellung, gibt einen Überblick über die Biografie Kurt Streubels und einzelne Aspekte des künstlerischen Schaffens. Besondere Aufmerksamkeit legt sie dabei auf die Studienjahre bei Hanns Hoffmann-Lederer in Weimar, der eine »Scharnierfunktion« für Streubel hatte. Der ehemalige Bauhaus-Schüler übernahm Grundelemente der berühmten Vorlehre in seinem Unterricht und bereitete damit den Weg in eine neue Zeit – die mit dem Formalismusstreit 1950 jedoch jäh enden sollte. Kurt W. Streubels Pinselzeichnung Kosmische Komposition (1950), gegen die sich der Formalismus-Vorwurf vor allem richtete, ist Ausgangspunkt des Beitrags von Michaela Mai, die ausführlich den mannigfaltigen Bezügen zu Werken von Paul Klee und Wassily Kandinsky nachgeht und aufzeigt, wie Streubel ausgehend von den Impulsen der Bauhausmeister seine eigene Bildsprache entwickelte. Anne-Kathrin Hinz stellt den experimentellen Charakter von Streubels künstlerischer Arbeit heraus. Abstraktion war für Streubel Sinnbild für die Freiheit und damit seine »Gegenstimme zum offiziellen Kunstbetrieb.« Am Beispiel einiger Grafiken, darunter Exlibris-Entwürfe der 1960er Jahre, zeigt Hinz die Nähe zu zeitgenössischen Strömungen wie dem Informel auf. In der Gesamtschau erweist sich Kurt W. Streubel als ein vielseitiger und musikaffiner Maler, Grafiker und Dichter, der seiner künstlerischen Grundhaltung trotz widriger Umstände lebenslang treu blieb und in großer Experimentierfreude ein vielfältiges Werk schuf.

Veröffentlicht am: 25. Juni 2021, 12:00 Uhr